Nina Bodenlosz: Das Blechazi. Keine Weihnachtsgeschichte (Rezension)

Jetzt, da die Tage kürzer werden, bleibt mehr Zeit für Bücher. Zum Beispiel für dieses hier … mit dem ungewöhnlichen Titel „Das Blechazi. Keine Weihnachtsgeschichte“. Allein schon der Untertitel weckte mein Interesse. Was kann das für ein Buch sein, das ausdrücklich keine Weihnachtsgeschichte ist?

Die Handlung:

Cover „Das Blechazi“ von Nina Bodenlosz, Berlin

Cover von „Das Blechazi“, Nina Bodenlosz, Berlin

In „Das Blechazi. Keine Weihnachtsgeschichte“ geht es um die Spurensuche einer Frau: Margarethe Gedeon, die Ich-Erzählerin, teilt mit uns ihre Eindrücke und Erlebnisse aus ihrer Kindheit und Jugend, an die sie sich langsam, Stück für Stück, erinnert.

Einmal im Jahr besucht sie über die Weihnachtstage ihre Eltern. Das Verhältnis zu ihrer Familie ist nicht besonders innig, Margarethe steht seit ihrer Kindheit im Schatten ihrer älteren Schwester. Ihr Vater „wartete vergeblich darauf, dass mich der Kuss des richtigen Mannes zur guten Tochter machte. Bei mir saß das Übel tiefer als bei der Pechmarie in diesem Film [‚Kohlhiesels Töchter‘].“ (Bodenlosz, 2015, S. 126)

Eine Spurensuche

Margarethes Eltern und Großmütter waren nach Ende des Zweiten Weltkriegs aus Ostpreußen und aus der Zips geflohen. Vater und Mutter sind sehr religiös, vor der Erkrankung der Mutter besuchten sie gemeinsam Bibelkreise. Doch es gibt auch eine andere Seite: „Als Frau Hals von Ehebrüchen und Pornomagazinen auf dem Dachboden von achtzigjährigen, tief katholischen Ehemännern erzählte, lachte meine Mutter wissend mit. Sie hatte viele Bücher gelesen, in denen von Sex die Rede war.“ (Bodenlosz, 2015, S. 118)

Die Bewertung:

Das Selbstbewusstsein und das Selbstwertgefühl der Ich-Erzählerin scheinen zu Beginn des Romans kaum noch vorhanden. „Ich verbrachte mein ganzes Leben damit, mich anderen aufzudrängen. Ich war ein ungeliebter Gast, nicht so unerwünscht, dass man mich herausgeworfen hätte, aber doch unangenehm.“ (Bodenlosz, 2015, S. 224). Vieles in dem Roman wird nur angedeutet und lässt Raum für Interpretationen.

Fazit: fünf von fünf möglichen Krönchen

Nina Bodenlosz, Autorin vom „Blechazi“, Foto: Ruth Frobeen, Hamburg

Die Autorin Nina Bodenlosz präsentiert uns Margarethes Geschichte sehr schonungslos, damit hat sie mich berührt. Wie Margarethe es aus eigener Kraft schafft, neues Selbstvertrauen aufzubauen und sich von Tag zu Tag etwas mehr von ihrer Familie zu emanzipieren, ist bewundernswert. Ein tolles Buch, das zum Nachdenken anregt.

Zur Autorin:

Die Autorin Nina Bodenlosz kam 1965 zur Welt und lebt seit Mitte der Achtzigerjahre in Berlin. Sie ist Soziologin und schreibt unter ihrem Pseudonym Nina Bodenlosz Romane und Erzählungen.

Nina Bodenlosz: Das Blechazi, Berlin, 2015.


Ich freue mich, dass die Autorin der Orthogräfin ein Interview gestattete, in dem keine Fragen unbeantwortet blieben.

Liebe Frau Bodenlosz, Sie veröffentlichten 2015 Ihren Roman „Das Blechazi. Keine Weihnachtsgeschichte“ unter einem Pseudonym. Möchten Sie im Alltag lieber unerkannt bleiben?

Wer wirklich will, könnte das Pseudonym wohl lüften. Für mich hat die Kunstfigur Nina Bodenlosz eine andere Funktion, als meine wahre Identität zu verbergen. Sie erlaubt es mir, freier in dem zu sein, was ich schreibe. Ich mache mir weniger Gedanken darum, ob ich schreiben darf, was ich schreiben will. Es ist ein Spiel mit Identitäten. Die Autorin ist ein Teil von mir, aber sie führt ein Eigenleben; ihr Hintergrund und ihr Name sind nicht ganz amtlich. Ich darf mich so beim Schreiben aus meinem Alltags-Ich lösen. Das bestärkt mich darin, das zu schreiben, was mich beflügelt.

Im Untertitel steht deutlich lesbar „Keine Weihnachtsgeschichte“. Dennoch findet die Handlung Ihres Romans rund um die Weihnachtstage statt. Zudem erinnert der Umschlag, komplett in Grün-Rot gehalten, auch noch farblich ans Weihnachtsfest. Wie sollen die Leserinnen und Leser das interpretieren?

Der Roman spielt zu Weihnachten, aber ist er deswegen eine Weihnachtsgeschichte? Damit verbinde ich Besinnlichkeit, menschliche Wärme, die Hinwendung zum Guten, Familien, die sich nahe kommen. Im Blechazi zeigt Weihnachten ein anderes Gesicht: Die Familie rückt sich nahe, aber im Sinne einer klaustrophoben Enge. Margarethe und ihre Eltern sitzen in der Wohnung fest. Margarethes Albtraum, auf Dauer dort gefangen zu sein, scheint eingetreten. In gewisser Hinsicht ist der Roman natürlich eine Weihnachtsgeschichte: Weihnachten ist in vielen Familien eine Zeit, in der Ansprüche, Wünsche, Bedürfnisse aufeinanderstoßen und zu ungemütlichen Situationen führen, trotz Kerzenschein und Weihnachtsliedern. Statt Harmonie herrscht dicke Luft. Insofern ist der Untertitel auch ein Spiel mit Erwartungen.

Wie ist die Idee zu diesem Roman entstanden?

Ich habe viele Weihnachtstage erlebt, an denen meine Familie aufeinanderprallte. Einerseits war da die Vorstellung, als Familie zusammenzugehören und diesmal alles einigermaßen glimpflich über die Bühne zu bringen, andererseits spielten sich unerträgliche Szenen ab. Ich selbst erkannte mich kaum wieder. Ich rutschte in die Position eines Kindes zurück und war wie gelähmt. Erst auf der Rückfahrt erwachte mein Erwachsenen-Ich.

Ich stellte mir die Frage: Was wäre, wenn eine Frau in dieser Lähmung verharrte? Was wäre, wenn eine Tochter es duldete, von ihren Eltern in deren Welt gefangen zu werden? Mit diesen Fragen begann ich die Arbeit am Blechazi. Ich wusste, dass meine Protagonistin zuletzt entkommen würde, aber ich ließ sie zunächst in eine Passivität sinken, in der sie alles hinnahm, was ihre Eltern von ihr forderten.

Auf einer anderen Ebene wollte ich eine Atmosphäre einfangen. Margarethes Familie ist nicht identisch mit meiner Herkunftsfamilie, aber die Familien ähneln sich. Sie sind geprägt von den Auswirkungen von Krieg und Flucht, von den Traumata der Eltern und deren Versuchen, damit zu überleben.

Ich suchte nach Worten und Bildern dafür, wie es sich anfühlte, in meiner Familie zu sein. Ich wollte die Innenansicht zeigen, mit all ihrer Traurigkeit und Skurrilität.

Jede Familie ist eine Welt für sich. Wir können nur vermuten, wie es bei den anderen zugeht, wenn sie unter sich sind. Ich hatte das dringende Bedürfnis, auszudrücken, was innerhalb meiner Familie vor sich ging. Indem ich diese Erfahrungen in eine literarische Form brachte, wollte ich sie besser verstehen und teilen. Leserinnen und Leser haben mir seither bestätigt, dass sie diese Einblicke in das Innenleben einer Familie berühren, dass sie daran anknüpfen können und eigene Erfahrungen damit verbinden.

Als Leserin begleite ich Ihre Hauptfigur Margarethe auf einer Reise in die eigene Unabhängigkeit. Als Autorin haben Sie ihr dabei sehr viel zugemutet – wie kommt Margarethe da unbeschadet wieder heraus?

In der Tat mutete ich meiner Protagonistin viel zu und schonte sie nicht. Sie selbst ist an der Verstrickung mit ihren Eltern beteiligt und erscheint nicht im besten Licht. Ich lasse sie tief sinken, aber zuletzt darf sie im wahrsten Sinne des Wortes hoch hinaus. Unbeschadet wird Margarethe wahrscheinlich nie sein, aber ich wollte ihr die Hoffnung schenken, dass sie den Einfluss ihrer Eltern auf ihr Leben überwinden kann. Dass sie den Mut findet, aktiv und gestaltend weiterzugehen. Dass sie ihr Leben genießen kann. Sie hat die Fähigkeit, sich zu befreien, das wird auf ihrer Rückfahrt spürbar. Inwieweit es ihr gelingen wird, bleibt offen.

Verraten Sie uns zum Schluss noch, was es mit dem Blechazi auf sich hat? Muss man Wort das kennen, woher stammt es?

Blechazi ist ein Wort aus meiner Herkunftsfamilie. Mir war es als Kind geläufig, doch außerhalb meiner Familie verstand es niemand. Es bezeichnet ein Gefäß aus emailliertem Metall, mit oder ohne Henkel. „Bring mir das Blechazi“, sagte meine Mutter, und das konnte sich zu meiner Verzweiflung auf zahlreiche Tassen, Becher und Schüsseln beziehen, die eben blechern waren. Wehe, ich brachte das Falsche. Woher die Endung stammt, kann ich nicht nachvollziehen. Die Wurzel wird in der Schnittmenge von Mantakisch, Ostpreußisch und Bayerisch liegen.


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